Milan Kundera - "Die unertraegliche Leichtigkeit des Seins"Nun muss ich doch meine franzoesische Serie schon unterbrechen fuer ein Buch, dass mich in den letzten Monaten beeindruckt und begleitet und erst jetzt (obwohl ich es vor ca. zwei Jahren schon einmal gelesen hatte) wirklich ueberzeugt hat. Milan Kundera, 1929 in Bruenn geboren, emigrierte 1975 nach Frankreich und schaffte 1984 mit seinem Roman "Die unertraegliche Leichtigkeit des Seins" als einer der wenigen tschechisch schreibenden Autoren den Durchbruch. Er beschreibt im Rahmen einer verschlungenen und komplizierten Liebesgeschichte den Prager Fruehling 1968, die politischen Ereignisse dieser Zeit, den Einmarsch der russischen Soldaten und das radikale Stummmachen von Intellektuellen. Zugleich gibt der Roman interessante Reflektionen ueber den Menschen, die Gesellschaft, die Sprache, das Leben, die Liebe; philosophische und psychologische Ueberlegungen regen zum Nachdenken an. Tomas, Arzt aus Prag, trifft Teresa, Kellnerin, in ihrem Heimatort auf dem Lande, den sie nie verlassen hat und wo sie noch immer bei ihrer Mutter, von der sie nie geliebt wurde, lebt. Diese ganze Begegnung basiert auf verschiedenen Zufaellen, die Teresa als Schicksal oder Zeichen deutet, Tomas jedoch eher als unwichtige Begebenheiten. Teresa verlaesst ihr Dorf, zieht nach Prag zu Tomas, der seit der Scheidung von seiner Frau, mit der er eine nicht sehr glueckliche Ehe gefuehrt hat und aus der er einen Sohn, den er nie wiederzusehen beschlossen hat, zuruecklaesst, allein lebt und nicht bereit ist fuer eine Beziehung. Er hat verschiedene Freundinnen, die er in regelmaessigen Abstaenden trifft, will eben dieses unbeschwerte Leben nicht aufgeben. Und auch wenn er sein zukuenftiges Leben mit Teresa verbringen wird, und zwar gewollt und gewaehlt, so fuehrt er diese Affaeren und Bekanntschaften bis fast zum Ende fort, obwohl Teresa sehr darunter leidet. Diese Geschichte bildet den Rahmen fuer die Beschreibung weiterer interessanter und auch seltsamer Charaktere, politischer Ereignisse und die Entwicklung psychologisierender und philosophierender Gedankengaenge. Z.B. ueber das Leichte und das Schwere. Ueber Nietzsches Ewige Wiederkehr. Ueber zwischenmenschliche Beziehungen. Ueber Politik. Der Roman ist nicht nur eine Liebesgeschichte und nicht nur Politik, er ist eine abgeschlossene und runde, aber dennoch offene und ergaenzbare Ueberlegung ueber grosse und wichtige, aber auch ueber kleine und alltaegliche Dinge und Themen. Doch sowohl der politische Hintergrund als auch die Liebesgeschichte zwischen Teresa und Tomas, auf denen letztlich saemtliche weitere Ueberlegungen des Romans basieren, sind spannend und fesselnd, bisweilen sonderbar und unverstaendlich, doch hier werden Menschen gezeichnet und eine Zeit reproduziert, die reell ist und war. Hier ist eben nicht alles schwarz oder weiss, hier gibt es nur Anregungen, keine Loesungen, hier gibt es kein Urteil, nur Erzaehlung. Der Leser soll gerade das selbst tun: Er soll bewerten, nicht nur die erfundenen Charaktere und ihre Taten, sondern auch die Politik. Er soll sich selbst entscheiden zwischen dem Schweren und dem Leichten. Ein Buch, das mich erst beim zweiten Mal Lesen wirklich begeistern konnte. Vielleicht genau deshalb, weil es intelligent ist und vielschichtig und weil man sich auf die Charaktere und die Gedanken einlassen muss, weil man das Buch erst nach und nach begreift, weil es Mitdenken fordert und eigenes Denken anregt. Ich kann es jedem empfehlen, der mehr will als sanfte Unterhaltung oder packende Spannung und der auch offen ist fuer bisweilen absurde Gedankengaenge, der diese erst einmal anzunehmen bereit ist, ohne sie gleich als Unsinn abzutun. Denn auch wenn man nicht mit allem, was Kundera schreibt, einverstanden ist, so hat man neuen Stoff gefunden, ueber den man nachdenken kann und der letztlich nur fragmentarisch angeschnitten als Anregung dient, eben nicht als Endgueltigkeit, genau das ist es, was besticht. Mich hat dieses Buch persoenlich weitergebracht. Nun zwei Kostproben, viel Spass beim Lesen! Cosima Kiessling "Wird aber ein Ereignis nicht um so bedeutungsvoller und gewichtiger, je mehr Zufaelle fuer sein Zustandekommen notwendig sind? Nur der Zufall kann als Botschaft verstanden werden. Was aus Notwendigkeit geschieht, was absehbar ist, was sich taeglich wiederholt, ist stumm. Nur der Zufall ist sprechend." "Aus diesem Gedankengewirr entsteht in Teresa eine blasphemische Idee, derer sie sich nicht erwehren kann: die Liebe, die sie mit Karenin verbindet, ist besser als die Liebe, die zwischen ihr und Tomas besteht. Besser, nicht etwa groesser. Teresa will weder sich noch Tomas die Schuld geben, sie will nicht behaupten, sie koennten sich noch mehr liebhaben. Eher scheint es ihr, das Menschenpaar sei so geschaffen, dass seine Liebe a priori schlechter sei als (zumindest im besten Falle) die Liebe zwischen Mensch und Hund, diese Sonderbarkeit in der Geschichte der Menschheit, die vom Schoepfer vermutlich nicht eingeplant war. Diese Liebe ist selbstlos: Teresa will nichts von Karenin. Nicht einmal Liebe fordert sie von ihm. Sie hat sich niemals die Fragen gestellt, von denen die Menschenpaare gequaelt werden: Liebt er mich? Hat er jemand anderen mehr geliebt als mich? Liebt er mich mehr, als ich ihn liebe? Moeglich, dass all diese Fragen, die sich um die Liebe drehen, sie messen, erforschen, untersuchen und verhoeren, sie auch schon im Keim ersticken. Moeglich, dass wir nicht faehig sind zu lieben, gerade weil wir uns danach sehnen, geliebt zu werden, das heisst: weil wir vom anderen etwas wollen (die Liebe), anstatt ohne Ansprueche auf ihn zuzugehen und nichts als seine Gegenwart zu wollen. Und noch etwas: Teresa hat Karenin so akzeptiert, wie er ist, sie wollte ihn nicht nach ihrem Bilde veraendern [...] Und dann: ihre Liebe zu dem Hund ist freiwillig, niemand hat sie dazu gezwungen. [...] Und vor allem: kein Mensch kann einem anderen Menschen die Idylle zum Geschenk machen. Das vermag nur ein Tier, weil es nicht aus dem Paradies vertrieben worden ist. Die Liebe zwischen Mensch und Hund ist idyllisch. Es ist eine Liebe ohne Konflikte, ohne herzzerreissende Szenen, ohne Entwicklung." (Milan Kundera: Die unertraegliche Leichtigkeit des Seins. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987. S. 49 und S. 2842 f.)
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