BÜCHERKISTE

Ilse Aichinger

Heute möchte ich nicht nur über einen Roman berichten, sondern über eine Autorin. Ilse Aichinger, 1921 in Wien geboren, ist zwar eine nicht überaus bekannte, aber durchaus erwähnens- und lesenswerte Autorin der Gegenwart. Als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Kriegszeit tut sie sich v.a. mit ihrer sehr poetischen Schreibweise hervor. In der Literaturwissenschaft bezeichnet man dies als "Poetik des Schweigens", es geht um äußerste Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche, die Sprache ist wichtiger als der Inhalt. Dies macht sie und ihre Werke oft unfassbar und kaum einzuordnen, sie zu verstehen, ist schwierig bis unmöglich.

Dennoch geht eine Faszination von ihren Texten aus, die fesselt, zum Nachdenken, Weiterlesen und Nochmallesen anregt.

 

Neben vielen Erzählungen (z.B. "Der Gefesselte", "Spiegelgeschichte" u.a.), die zwar teilweise als Parabeln oder Allegorien entziffert werden können, jedoch meist nicht wörtlich und vollständig übersetzbar sind, sondern der Interpretation Spielraum lassen, hat sie auch Gedichte geschrieben.

Ihr aktuellstes Werk "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben" (2003 erschienen) ist eine Art Autobiographie, geknüpft an die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Als Tochter einer Jüdin, die fast ihre gesamte Familie während des Zweiten Weltkrieges verloren hat, ist ihr gesamtes Werk stark von diesem Verhängnis geprägt. Sie versucht jedoch nicht, über dieses Grauen zu schreiben, sondern durch das, was sie versteckt oder gar nicht sagt, daran zu erinnern.

 

Ihr 1948 veröffentlichter Roman "Die größere Hoffnung" ist insofern äußerst erstaunlich als dass sie so unmittelbar nach dem Krieg eine größtenteils autobiographische Geschichte über das Mädchen Ellen schreibt, eine Halbjüdin, die nicht ausreisen kann, aber auch nicht deportiert wird, die nirgendwo richtig dazu gehört (weder zu den arischen Kindern, noch zu den jüdischen) und die sich doch wünscht, teilzuhaben, sei es am Grauen, sei es an der Hoffnung, sei es an der Erlösung (die nicht unbedingt die Befreiung, sondern auch die Deportation bedeuten konnte). Müsste man den Roman mit seiner schockierenden Offenheit einordnen, so würde man ihn vermutlich eher in die 70er Jahre situieren. Ilse Aichinger zeigt präzise, wie gut sie schon so früh die Bewegungen und Geschehnisse der damaligen Zeit durchschaut hat. Auch hier geht es natürlich um Sprache, z.B. wird die Nazisprache aus der phantasievollen Sicht eines Kindes attackiert und ad absurdum geführt.

Dieser Roman liest sich wider Erwarten gut und recht flüssig, die Geschichte ist beeindruckend und spannend, bisweilen sehr ironisch und sarkastisch. Eine gemütliche Lektüre ist es zwar nicht, dafür aber ein literarisches Kunstwerk. Wem der ganze Roman zu lang ist, dem empfehle ich eine kleine Erzählung der Aichinger (s.o.), die zwar schwieriger zu verstehen, dafür aber sprachlich überzeugend und sehr schön kurz ist.

Nun noch eine kleine Leseprobe aus "Die größere Hoffnung", viel Spaß damit,

Cosima Kießling

 

" Mit beiden Armen versuchte sie ihn zu umfangen.

Der erste Käufer ging, weil er keinen Sinn für die Beziehung zwischen Traum und Geschäft hatte, der zweite ging, weil er in einem Winkel des alten Schranks eine Spinne entdeckte, und erst mit dem dritten konnte Ellen eine Verhandlung versuchen. Es war keine schlechte Verhandlung, da sie mit Schweigen begann. Als beide lange genug geschwiegen hatten, um sich ein wenig kennenzulernen, warf Ellen dem verblüfften Käufer ihre märchenglänzenden Argumente an den Kopf. Sie sprach für den alten Schrank.

'Er knarrt!' sagte sie, legte den Finger an den Mund und bewegte sachte die morschen Flügel. 'Und wenn drüben ein Zug vorbeifährt, beginnen seine Scheiben zu klirren. Wollen Sie warten, bis ein Zug vorbeifährt?'

Der Käufer setzte sich auf einen Lehnstuhl, der sofort umkippte. Er stand wieder auf, antwortete aber nicht. 'Er riecht nach Äpfeln', flüsterte Ellen drohend und hilflos. 'Ganz unten ist ein Brett zuwenig, da kann man sich verstecken!'

Vergeblich versuchte sie, das Unfaßbare in harte Worte zu fassen. Sie vergaß vollständig zu sagen, daß das Glas der Schranktüren geschliffen war, wie ihr die Großmutter aufgetragen hatte, und sie vergaß die Einlegearbeit an seinen beiden Seiten.

'Im Herbst kracht er, als ob er ein Herz hätte!' erklärte sie statt dessen triumphierend.

'Kracht man im Herbst, wenn man ein Herz hat?' fragte der Käufer. Dann warteten sie wieder stumm auf den Zug.

'Der Wind geht!' sagte Ellen, als müßte auch dieser Umstand den Wert des Schrankes beweisen. 'Wieviel wollen Sie zahlen?'

'Ich warte', sagte der Käufer unbeweglich. 'Ich warte auf den Zug.'

Der Zug kam. Die Scheiben klirrten.

'Er hat Angst', sagte Ellen und wurde blaß, 'der Schrank hat Angst vor Ihnen.'

'Ich nehme ihn', sagte der Käufer. 'Bitte um den Preis.'

'Danke', sagte Ellen, 'aber ich weiß nicht - er hat Angst vor Ihnen.'

'Er wird sich beruhigen', sagte der Käufer.

'Können Sie ihn bezahlen?' fragte Ellen ängstlich.

'Nein', antwortete der Käufer traurig, 'nein, ich kann ihn nicht bezahlen. Er knarrt und riecht nach Äpfeln. Ich bleibe Ihr Schuldner.' Und er legte fünfhundert Mark auf den Tisch.

'Nicht!' wies ihn Ellen verwirrt zurück. 'Die Großmutter hat gesagt: Nicht unter hundertfünfzig!'

'Sagen Sie Ihrer Großmutter: Nichts über einen tiefen Traum.' Und der Käufer ging, ohne den Schrank jemals abzuholen. Er hatte den Apfelduft gekauft und Ellens blasses Gesicht."

(Ilse Aichinger: "Die größere Hoffnung". Fischer Taschenbuch Verlag, 9. Auflage März 2003, Frankfurt am Main. S. 69/70.)

 

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