Warum es im Sommer ’74 in der ganzen DDR keine Gartenschläuche zu kaufen gab
Algerische Christen zwischen Terror und berechtigter Hoffnung 

Ich habe in Algerien nichts zu befürchten. Wenn ich getötet werde, werden die Konten der Terroristen in der Schweiz gesperrt. Dann haben sie kein Geld mehr.“  Pater Roman Stäger ist Schweizer. Mit dieser und vergleichbaren
Äußerungen zieht er die Sympathien seiner Zuhörer sofort an. Seit vielen Jahren lebt und arbeitet der Afrika-Missionar in der algerischen Wüsten-Diözese Laghout. Jetzt ist er in Begleitung des Erzbischofs von Algier, Henrie Teissier, nach Deutschland gekommen. Der Priester beherrscht neben seiner schweizerdeutschen Muttersprache das Französische und des Arabische. Deshalb übernimmt er während der vom Katholischen Hilfswerk Misereor organisierten
Reise des algerischen Erzbischofs gerne den Part des Dolmetschers. 
Monika Dann und ihr Kollege Hans-Joachim Klein von der Berliner Arbeitsstelle Misereor/Not in der Welt freuen sich über die gelungene Podiumsdiskussion mit Schülerinnen und Schülern der 13. Klassenstufe. Während ihres Berliner
Besuchsprogramms hatten die Gäste Gelegenheit, mit Jugendlichen  in der Katholischen Theresienschule ins Gespräch zu kommen. Und die waren voller Wissensdurst. Während des von Politiklehrer Andreas Kühler moderierten
Gespräches wurde schnell deutlich: die angehenden Abiturienten hatten sich bereits im Unterricht nachhaltig mit Geschichte und aktueller politischer Situation in dem afrikanischen Land auseinandergesetzt. Wenngleich die Mädchen
anfangs mutiger waren und die ersten Fragen an den Bischof und seinen Begleiter richteten, tauten die Jungen auch bald auf. Mag sein, daß die von Andreas Kühler für die erste Frage ausgelobte Tüte Fruchtgummi eher die „süßen“ Mädchen aus der dem bischöflichen Eingangsstatement folgenden Reserve lockte. Jedoch zur Mitte und gegen Ende des etwa zweistündigen Gesprächs gelang es den Herren der Schöpfung, das Gleichgewicht der Geschlechter im
Frage- und Antwortspiel wieder herzustellen. 
„Das ist eine schwierige Frage; die beantwortet der Pater“, schmunzelt Erzbischof Teissier. Einige Male läßt sich Pater Stäger diese Aufforderung gefallen. Und dann kontert er fast jesuitisch: „Das ist eine politische Frage, die an den Bischof geht!“ Natürlich möchten die Schüler aus erster Hand erfahren, wie es den Menschen in Algerien geht. Sie brennen darauf zu hören, wie die Algerier leben, was sie glauben und hoffen, ob und worin sie Perspektiven für ihr Leben und das ihrer Kinder sehen. Und die Schüler sind interessiert an der Rolle der Kirche im Spannungsfeld zwischen der seit März 1992 verbotenen radikalen Islamischen Heilsfront (Front Islamique du Salut/FIS) und der spätestens seit den letzten Parlamentswahlen am 5. Juni 1997 legitimierten Regierung in El Djazair (Algier). 
Presse, Funk und Fernsehen waren in den letzten Wochen und Monaten voll von Schreckensmeldungen. Bis heute vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über bestialische Massaker an Frauen, Kindern, Alten und Kranken in den Dörfern und Städten der ehemaligen französischen Kolonie berichtet wird. Von wem sie verübt werden, ist nicht immer klar. Die Regierung macht Extremisten der Islamischen Heilsfront verantwortlich, die FIS bezichtigt häufig Armee oder
Polizei. Schätzungen über die Zahl der Opfer seit Beginn des algerischen Bürgerkriegs Ende 1991 schwanken zwischen 50.000 und über 100.000. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Besonders viele Opfer gibt es in jüngster Zeit
bei Intellektuellen, Künstlern, linksgerichteten Oppositionellen, Journalisten und westlich gekleideten Frauen zu beklagen. „Auch Frisöre gehören zunehmend zu den Opfern, weil es Frauen nicht gestattet ist, sich schön zu machen“, sagt Erzbischof Henrie Teissier. Nachdem am 28. Januar 1997 der Führer des regierungsnahen Gewerkschaftsbundes UGTA, Abdelhak Benhamouda, erschossen wurde, erreichte der Terror vor gut einem Jahr einen weiteren traurigen
Höhepunkt. Während des Fastenmonats Ramadan (9. Januar bis 4. Februar) wurden mindestens 400 Menschen umgebracht. Internationale Beobachter und verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten von mehr als fraglichen Praktiken der algerischen Regierung. So erklärte der Vorsitzende der Algerischen Liga für Menschenrechte, Abdenour Ali Yahia, im April 1997, daß Tausende seiner Landsleute unter der Folter von Polizei und Armee gestorben seien. Heute ist das Parlament in Algier bemüht, erste Schritte auf dem Weg der kapitalistischen Marktwirtschaft zu gehen. Terror, Mord und Verwüstung erweisen sich auf  dem eingeschlagenen Kurs als massive Hemmnisse. So werden dringend gesuchte Investoren aus Westeuropa, Japan und den USA von der gegenwärtigen Lage abgeschreckt. Das ist um so bedauerlicher, als Algerien gerade in der Erdölproduktion und -verarbeitung eine wirtschaftliche Chance hätte.  Doch zum Ausbau dieses Wirtschaftszweiges braucht es Kapital aus dem Westen. Das knapp 30 Millionen Menschen zählende Volk gerät zunehmend zwischen die Fronten. Zwischen den Extremen wird es aufgerieben. Nach den Berichten des Erzbischofs und des Paters scheinen weder die mehr als 130 Jahre währende
Kolonialzeit, noch die soziokommunistische Etüde, als man seit 1963 über Jahre in der Sowjetunion den „Großen Bruder“ erkannt zu haben glaubte, aufgearbeitet zu sein. Hinzu kommt neben der Angst um Leben und Unversehrtheit die patriarchalisch geprägte Situation der Familien. Hier ist es der Mann, der die alleinige und ausschließliche Regentschaft innehat. 
Seitdem die Islamischen Heilsfront mit ihrem bewaffneten Arm in den Untergrund gezwungen wurde, verfolgen die Terroristen nur noch das Ziel, alles niederzumetzeln und zu zerstören. Nach dem Motto: Wer nicht einer Meinung mit
uns ist, hat kein Recht auf ein Weiterleben. „Diese Leute glauben“, berichtet Pater Stäger, nur so könne der Islamische Gottesstaat „rein und strahlend“ erstehen. Und genau in diesem „Gottesstaat“ liegen die Hoffnungen der Terroristen. Mit seiner Errichtung glauben sie, alle Probleme des Landes einer Lösung zuführen zu können. „Bei diesen Leuten ist die Gewalt zur Ideologie erhoben“, erklärt der Geistliche. „Alles Leid, das die Terroristen stiften, resultiert aus ganz bewußt gewollten und provozierten Gewaltakten. Diese Menschen legitimieren die Gewalt allein aus ihrem religiösen Fanatismus.“ 
Mit unverkennbarer, gebotener Vorsicht zeichnet Erzbischof  Henrie Teissier in seinen Antworten auf die Fragen der Schülerinnen und Schüler ein Bild, das sich kaum von dem unterscheidet, was George Orwell in seinem berühmten Roman „1984“ eindrucksvoll niedergeschrieben hat. So sei die psychologische Grundstimmung im Land am besten mit dem Begriff der Angst zu beschreiben. Pater Stäger: „Der Terror ist allgegenwärtig!“ Wenngleich nicht hinter jedem
Baum ein FIS-Mann mit der Kalaschnikow oder dem Dolch stehe. Doch habe der Terror jetzt auch die entlegendsten Regionen des Landes erfaßt. Unschuldige Frauen, Kinder, Greise und Behinderte seien ermordet, ihr Hab und Gut
geplündert, ihre Hütten niedergebrannt worden. Und in den Familien gebe es keine Möglichkeit, über die Angst, die Wut, die Frustration zu sprechen. „Keine Mutter weiß, ob nicht einer oder gar zwei ihrer Söhne mit der FIS
sympathisieren und die Eltern bei den Extremisten denunzieren“, übersetzt Pater Stäger den Erzbischof. Es gebe immer mehr Menschen, die aus Angst vor der unkalkulierbaren Gewalt keine zwei Nächte an einem Ort, in einem Haus
verbringen. Die Produktion und der Verkauf von Schlafmitteln sei explosionsartig angestiegen. 
In diesen aus europäischer Distanz nur schwer nachvollziehbaren Alltag sehen sich die algerischen Christen gestellt. Sie befinden sich gegenüber der fast zu 100 Prozent dem Islam zugehörigen Bevölkerung in extremer Minderheit. Genaue Zahlen gibt es nicht. Pater Stäger spricht gegenüber der KirchenZeitung von 2.000 bis 2.500 Katholiken. Anders ausgedrückt: 0,008 Prozent der Algerier sind katholisch. 120 Priester, 170 Ordensschwestern und rund 100
Laienmissionare leisten ihren Dienst in dem nordafrikanischen Staat. Ungeachtet der kleinen Herde, so Erzbischof Teissier, setzen die Christen in dem arg gebeutelten Land „Zeichen der Hoffnung“. Gemeinsam mit den evangelischen Christen, den Kopten aus dem Mittleren Osten und den Mennoniten würden die Katholiken alles unternehmen, um „mit den Menschen zu leben“. „Es gibt im ganzen Land keine Orte, wo die Frauen weinen können.“ Die Christen versuchen, wenngleich in sehr bescheidenem Maße, solche Orte zu offerieren. Erzbischof  Teissier: „Als ganz kleine Minderheit sind wir zur Diskretion gezwungen. 19 Schwestern und Brüder, unter ihnen ein Bischof, haben den Glauben und die Solidarität mit den Opfern bereits mit ihrem Blut bezeugt.“ Trotz aller Gewalt in Algerien gebe es berechtigten Grund zur Hoffnung auf eine Besserung der Lage. Henrie Teissier erzählt von einer Mutter, die zwei Söhne verloren und damit unendliches Leid zu tragen hat. Auf die Frage anderer islamischer Frauen nach geplanter Rache habe sie geantwortet: „Ich möchte keine Rache. Denn keine Mutter soll durch mein Verschulden das durchmachen, was ich erlitten habe.“ Allein durch solche Einsichten könne die endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen werden, ist Teissier überzeugt.
Die deutschen Katholiken unterstützen über das Hilfswerk Misereor die Christen in Algerien. Monika Dann berichtet von Hilfsaktionen, die bereits in den Jahren der DDR möglich waren. So sei Algerien eines der wenigen Länder
gewesen, in das Not in der Welt bereits seit 1958 Hilfsgüter senden durfte. Pater Roman Säger war im Sommer 1974 zu Besuch in der DDR. Es war die Zeit, als die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland zum zweiten Mal
Fußballweltmeister wurde. Säger konnte damals für eine Million DDR-Mark Hilfsgüter erwerben. „Jetzt wird klar, warum es damals in der ganzen ’Republik‘ keine Gartenschläuche zu kaufen gab.“  

 Thomas Steierhoffer
 (Ausgabe Nr. 11 / 15.3.98)