Das IN VIA Center - ein Haus für Frauen
Offen sein für alle

Frau Bahl, sollen wir Kräuter der Provence nehmen?“ - „Ja, für die Remoulade; heute gibt es warmen Kartoffelsalat mit gebratenem Fisch.“ Geschirr klappert  in der Lehrküche. Achtzehn junge Frauen werden zu Hauswirtschafterinnen
qualifiziert. Sie tun das nicht, weil sie solchen Spaß am Backen, Fensterputzen oder dem Führen von Haushaltsbüchern hätten, sondern weil sie in  Existenznot sind. Sie leben von Sozialhilfe; viele von ihnen sind für ein, zwei Kinder erantwortlich. Über Beruf und Arbeit wollen sie ihren Lebensunterhalt wieder selbst verdienen. Wie Madeleine, 24 Jahre alt, eine kleine Tochter, aus Berlin-Lichtenberg: „Mein Betrieb hat zugemacht. Ich war vier Jahre arbeitslos und bin froh, daß ich diese Ausbildung hier bekommen habe.“ Als zukünftige Hauswirtschafterin rechnet sie sich gute Chancen aus. Das Haus, in dem die Ausbildung stattfindet, wurde im Mai 1995 eingeweiht. „IN VIA-Center“ steht über dem Eingang des vierstöckigen weißen Gebäudes in Berlin-Karlshorst. Es ist ein Begegnungszentrum für Mädchen und Frauen. Seine „Eltern“ sind die IN VIA Katholische Mädchensozialarbeit und die Caritas im Erzbistum Berlin. Grund und Boden gab die katholische Pfarrei dazu: Sie hat ihren Garten geteilt. „IN VIA“, auf dem Weg, dieses Motto umreißt die Aufgabe: Eine Station auf dem Weg junger Menschen soll es sein. Die Leiterin des Hauses, Ursula Grzibek, wollte bewußt im Ostteil Berlins bauen. Denn hier wie im Land Brandenburg sind vor allem Jugendliche und Frauen auf unbekannte Wege geraten, manchmal auch in Sackgassen. „Sie müssen lernen, mutig an einer Zukunftsperspektive für sich und ihre Kinder zu bauen“, sagt die Sozialpädagogin aus Westfalen. Das IN VIA-Team hilft ihnen, das nötige Selbstbewußtsein dafür aufzubringen. Das Prinzip des Hauses heißt: Offen sein für alle. Für sozial Schwache wie für Frauen in gesicherten Verhältnissen. Nach dem Taufschein wird nicht gefragt.
Die meisten der Frauen, die hier ausgebildet werden oder kommen, weil sie über Montesori-Pädagogik diskutieren oder sich bei Yoga-Übungen entspannen wollen, sind kirchenfremd aufgewachsen. Nun verbringen sie ihre Zeit in einem kirchlichen Haus, mit Frauen einer geistlichen Gemeinschaft, dem Säkularinstitut St. Bonifatius, Detmold. Für Madeleine ist das keine Hürde: „Wir können uns hier so geben, wie wir sind. Wir werden nicht irgendwie
 missioniert. Aber wir können fragen, warum die IN VIA-Frauen so leben, was ihnen wichtig ist.“
Das Haus hält die Türen auch offen für Mädchen. In den östlichen Berliner Bezirken mangelt es an Freizeitangebote für Zwölf- bis Achtzehnjährige. Die Palette des „Mädchentreffs“ reicht von Jazzdance über Seidenmalerei bis zur
gemeinsamen Sommerferienwoche. Ein Alternativangebot soll es sein, wo sie altersspezifische Fragen stellen können, „weil ich ein Mädchen bin.“ Und worüber reden Mädchen, wenn sie unter sich sind? Natürlich über die, die nicht
da sind: Das sind die Jungs. Aber auch über all das, was sie von zu Hause her beschäftigt, über Probleme mit den Eltern, dem Freund oder über Schulstreß und die Angst vor einer Fünf in Mathe auf dem Zeugnis. Sozialarbeiterin Sandra Döpper und die anderen vom Treffpunkt-Team haben Zeit für die Mädchen. Auch für SOS-Rufe. Prinzip Hoffnung könnte über dem Haus stehen. Dafür sind viele kleine, oft  ermüdende Schritte nötig. Es gibt Ärger und Rückschläge, ständige Geldsorgen,  Betteln beim Berliner Senat und nicht selten einen 16-Stunden-Arbeitstag. Die
 Mitarbeiterinnen brauchen eine große Vision, um nicht zu resignieren.Der heilige Benedikt mit seinem Motto „Bete und arbeite“ ist ihnen wichtig. In seiner Lebensregel aus dem 6. Jahrhundert schrieb er: Wer einen Armen, einen
 Fremden oder einen Gast aufnimmt, der nimmt Christus auf. Die Frauen vom IN VIA-Team halten ihre Tür tagtäglich offen. Für Auszubildende wie Madeleine. Für die Heranwachsenden, die ein zweites Zuhause finden können. Für Mütter (und auch Väter!), die dreimal in der Woche mit Kinderwagen anrollen zum Erzählen, zum Ideenaustausch und manchmal auch, um im „Raum der Stille“ den Alltag abklingen zu lassen. Vertreterinnen der gesetzteren Generation treffen sich zum „Englisch für Spätstarterinnen“ oder trauen sich an den Computer. Gäste aus Osteuropa finden einen Raum für lebendigen Erfahrungstransfer. Schülergruppen kommen zu Orientierungstagen und Behinderte zu Freizeiten.
 Andere schauen einfach nur mal so hinein, trinken einen Kaffee, suchen jemanden zum „Herz ausschütten“. Namen, Gesichter, Lebensgeschichten: All das hat für die kleine Hausgemeinschaft eine geistliche Dimension. Ursula Grzibek:
 „Für uns bedeutet das, ihnen zu helfen, daß sie ihre Würde und auch ihre Stärken erkennen, die oft verschüttet sind und sie spüren zu lassen, daß jede und jeder von Gott geliebt ist.“ 

Juliane Bittner
Aus der Katholischen KirchenZeitung 
Nr. 23/98 vom 7. Juni 1998