Sie half, solange sie konnte


Gertrud Luckners Einsatz für verfolgte Juden endete im KZ Ravensbrück

Berlin - Ich weiß, daß Sie weder Eltern noch Geschwister haben, die für Sie sorgen könnten. Darum habe ich mich bemüht, Ihre Adresse zu erhalten, um Ihnen nicht nur Grüße senden zu können, sondern um auch etwas für Sie sorgen zu dürfen. Heute morgen ging ein Paket an Sie ab.“ So begann der Brief, der am 25. Februar 1944 geschrieben wurde. Adressat war „Fräulein Dr. Gertrud Luckner Nr. 24 648 Block 6 Frauenkonzentrationslager Ravensbrück“. Brief und Paket kamen von Dr. Margarete Sommer in Berlin-Kleinmachnow, Geschäftsführerin des „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“. Beide Frauen hatten in der Hilfe für verfolgte Juden zusammengearbeitet, die eine unter dem Dach der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg und mit Rückendeckung des dortigen Erzbischofs Conrad Gröber, die andere in der damaligen Reichshauptstadt, gedeckt und gefördert von Bischof Konrad Graf von Preysing. Auf Umwegen hatte Dr. Sommer die Anschrift der verhafteten Dr. Luckner in Erfahrung gebracht und Kontakt aufgenommen. Wie kam es zur Verhaftung der mutigen Helferin jüdischer Mitbürger und zur Einlieferung ins KZ Ravensbrück?
Gertrud Luckner, 1900 im englischen Liverpool geboren, kam mit sieben Jahren zusammen mit ihren Pflegeeltern nach Deutschland und besuchte zuerst die Höhere Mädchenschule in Berlin-Lichterfelde und danach das Städtische Lyzeum in Potsdam. Später studierte sie das Fach Volkswirtschaft in Königsberg/Ostpreußen, Frankfurt/Main, Birmingham/England und Freiburg i. Br. 1934 konvertierte sie zur katholischen Kirche, nachdem sie zuvor der religiösen Gesellschaft der Freunde, den Quäkern, angehört hatte. Vier Jahre später promovierte sie mit dem Thema „Die Selbsthilfe der Arbeitslosen in England und Wales - auf Grund der englischen Wirtschafts- und Ideengeschichte“.
Ihr weiterer beruflicher und persönlicher Weg blieb seit den dreißiger Jahren eng mit der Caritaszentrale in Freiburg verbunden. Nach Kriegsausbruch war sie in der „Kirchlichen Kriegshilfestelle“ tätig, zu deren Aufgaben u. a. die Kriegsopferberatung, die Kriegsgefangenenfürsorge und die Vermißtenforschung gehörten. In einer von Caritaspräsident Kreutz unterschriebenen Dienstanweisung vom 1. Juni 1940 heißt es, Dr. Luckner sei auch mit der seelsorglichen Betreuung und Auswanderungsberatung „nichtarischer Katholiken“ beauftragt.
Schon 1933 und in den Folgejahren hatte die engagierte Pazifistin einzelnen jüdischen Mitbürgern bei der Ausreise aus dem NS-Staat geholfen, dessen antisemitische Gesetzesflut „Nichtarier“ mehr und mehr zu Menschen zweiter Klasse stempelte. Als 1938 der kleine Grenzverkehr in die Schweiz für Juden gesperrt wurde, brachte Dr. Luckner auch einzelne Juden über die grüne Grenze. Einer ihrer Helfer, Pfarrer Eugen Weiler, ist später wegen Beihilfe zur Flucht verhaftet worden und überlebte das KZ Dachau.
Der Freiburger Erzbischof bescheinigte Dr. Luckner am 19. Dezember 1941, daß sie von ihm „mit der Durchführung notwendiger Aufgaben der außerordentlichen Seelsorge betraut“ sei. Damit konnte die Caritas-Mitarbeiterin viele Türen öffnen und zahlreiche Kontakte unterhalten, die teilweise nahezu konspirativ verliefen: mit Dr. Margarete Sommer in Berlin, mit P. Ludger Born SJ von der durch Kardinal Innitzer ins Leben gerufenen „Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken in Wien“ und nicht zuletzt mit Rabbiner Leo Baeck, dem Präsidenten der „Reichsvereinigung“ der Juden, in Berlin.
Seit Januar 1943 wurde Dr. Luckner auf Schritt und Tritt observiert, nachdem schon jahrelang ihre Post kontrolliert worden war. Gestapobeamte aus Düsseldorf und in Amtshilfe aus Karlsruhe und Freiburg hefteten sich an ihre Fersen, besonders bei den zahlreichen Reisen und Besuchen quer durch Deutschland. Am 24. März 1943 wurde die „Pazifistin, kath. Aktivistin und fanatische Gegnerin des Nationalsozialismus“ auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin im D-Zug Freiburg-Karlsruhe verhaftet. Sie trug 5000 Reichsmark bei sich, die helfen sollten, bei Berliner Ministerialbeamten die Genehmigung zu „erleichtern“, daß ein Seelsorger in einen Judentransport nach Theresienstadt eingeschleust werden konnte.
167 erhaltene Ermittlungsakten der Gestapo gegen Dr. Luckner von 1942-1944 sind jetzt von Hans-Josef Wollasch, Leiter des Freiburger Caritasarchivs, sorgfältig bearbeitet, kompetent kommentiert und als Bd. 4 der Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus erstmals veröffentlicht worden. Die in typischen Behördendeutsch abgefaßten Berichte wurden von der Gestapo unter dem Kennwort „Betrifft Nachrichtenzentrale des Erzbischofs Gröber in Freiburg“ geführt. Als Informanten konnten auch einzelne kirchliche Mitarbeiter aus Düsseldorf und Freiburg gewonnen werden. Sie waren auf Gestapo-Romeos hereingefallen oder hatten verbaler Einschüchterung nicht standgehalten. Die damaligen Gestapomethoden unterschieden sich kaum von den späteren operativen Maßnahmen der Stasi in der ehemaligen DDR. Jedenfalls gelang es den NS-Beamten, verschiedene Beziehungspersonen von Dr. Luckner in Freiburg, München, Breslau, Berlin und anderswo zu ermitteln.
So wurde durch ein Blitz-Fernschreiben von Freiburg nach Düsseldorf am 19. Januar 1943 mitgeteilt, daß Dr. Luckner im Schnellzug von Freiburg nach Berlin unterwegs sei, „um sich dortselbst mit einer gewissen Frau Dr. Sommer zu treffen, die mit Nichtariern beschäftigt ist“. Als handschriftlicher Zusatz zur Person Sommer hieß es, sie sei Sachbearbeiterin für Judenfragen beim Ordinariat Berlin. Wenige Tage später, am 28. Januar berichtete ein Gestapobeamter über Dr. Sommer, daß die Stapoleitstelle Berlin ihrer Tätigkeit bisher „keine besondere Bedeutung beigemessen habe“. Die Sommer und ihre Tätigkeit werden aber „künftig genauestens beobachtet“.
Dr. Luckner war alles andere als aussagefreudig. Dennoch kamen in den Vernehmungen die Namen zahlreicher Beziehungspersonen zur Sprache. Offenbar war sich die Gestapo nicht ganz klar, wie sie gegen diese Kontaktpersonen vorgehen sollte. Am 22. Juni 1943 berichtete der vernehmende Beamte nach einer Besprechung im Berliner RSHA u. a.: „Hinsichtlich der Dr. Sommer vom Hilfswerk beim Ordinariat Berlin wurde mitgeteilt, daß von hier nichts gegen sie zu unternehmen sei. In Kürze wird das RSHA eine Aktion in Berlin starten, in der die Sommer zwangsläufig hineinbezogen würde. Ermittlungen im Zusammenhang Luckner könnten die geplante Aktion lediglich störend beeinflussen.“ Da die Akten des RSHA entweder verlorengegangen sind oder sich großenteils im Sonderarchiv Moskau befinden, läßt sich gegenwärtig nicht sagen, was im einzelnen geplant war.
Nach monatelangen, zermürbenden Vernehmungen wurde Dr. Luckner am 5. November 1943 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Für die „Schutzhaft“ wurde im Schutzhaftbefehl der Gestapo in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 genannt: „Sie gefährdet nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem sie durch ihre projüdische Betätigung und Verbindungen mit staatsfeindlichen Kreisen befürchten läßt, sie werde sich bei Freilassung weiter zum Schaden des Reiches betätigen.“ Luckner erhielt den roten Winkel der „Politischen“ und die Häftlingsnummer 24 648. Sie wurde verschiedenen Arbeitskommandos zugeteilt, so der Schneiderei und dem Rüstungsbetrieb Siemens & Halske. Sie konnte Lebensmittelpäckchen empfangen und - was mindestens ebenso wichtig war - Briefe. Denn beides waren Brücken zur Außenwelt. Bischof Preysings Antrag an das Reichskirchenministerium vom 19. Juni 1944, für das im Bereich seines Bistums liegende KZ Ravensbrück seelsorgliche Betreuung zu ermöglichen, da bisher seines Wissens „noch nie ein Priester gerufen worden (ist), um einem der dortigen Katholiken die Sterbesakramente zu spenden“, wurde erwartungsgemäß abgelehnt. Aber die Intervention dürfte höchstwahrscheinlich von der Tatsache ausgelöst worden sein, daß Preysing durch Dr. Sommer über Dr. Luckner informiert worden war.
Am 3. Mai 1945 war Gertrud Luckner bei jener Häftlingsgruppe, die auf dem Fußmarsch durch Mecklenburg in Malchow von der Roten Armee befreit wurde. Es begann für die 45jährige ein neuer Lebensabschnitt. Die Mitarbeiterin der Freiburger Caritaszentrale war nicht frei von Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen. „Was konnte man tun? Ein paar Leute retten ... Aber wir haben ja alle viel zu wenig getan, die Schuld ist ungeheuer.“ Unermüdlich widmete sich Dr. Luckner dem jüdisch-christlichen Dialog. Für ihr Lebenswerk, die „Freiburger Rundbriefe“, ein Forum zum besseren Verstehen von Juden und Christen, war sie lange Jahre deren „Chef vom Dienst“. Vom Staat Israel erhielt sie die Ehrentitel „Botschafterin der Menschheit“ und „Gerechte unter den Völkern“.
Zu ihrem 60. Geburtstag gratulierte ihr auch der damalige Berliner Kardinal Döpfner. Er schrieb, er wisse, „welch kostbaren Dienst“ sie gerade hier in Berlin „meinem hochseligen Vorgänger, Kardinal Preysing, und seinen Mitarbeitern geleistet“ habe. Dr. Sommer erinnerte in ihrem Geburtstagsschreiben an die vielfältige Zusammenarbeit mit Dr. Luckner in der NS-Zeit und fügte hinzu, sie habe nicht nur mit dem Berliner Hilfswerk zusammengearbeitet, sondern Sie „eilten von Bistum zu Bistum, von Bischof zu Bischof. Immer waren Sie unterwegs und hetzten sich selbst ab für Ihre Schützlinge, sich nicht schonend, der Gefahr nicht achtend. Bis das Geschick Sie dann selbst ereilte und - bezeichnenderweise - im D-Zug, als Sie wieder unterwegs waren... Sich selbst vergessend helfen zu dürfen, ist Ihre Leidenschaft.“
An der Schwelle zu ihrem 95. Geburtstag ist Dr. Gertrud Luckner am 31. August 1995 in Freiburg gestorben.

Wolfgang Knauft

Hans-Josef Wollasch:
„Betrifft: Nachrichtenzentrale des Erzbischofs Gröber“ - Die Ermittlungsakten der Geheimen Staatspolizei 1942-1944. Universitätsverlag Konstanz, 254 S., 68 DM.

(C) by Wolfgang Knauft

Nr. 27/99 vom 11. Juli 1999