Wollte Pius XII. nach Amerika ins Exil?

Deutsche Abhörzentrale am Großen Wannsee in Berlin überwachte ständig Radio Vatikan


Die Nachricht vom 1. Januar 1941 schlug zunächst wie eine Bombe ein. Papst Pius XII. soll die Absicht haben, seinen Sitz von Rom nach Amerika zu verlegen. Als neue Residenz soll die argentinische Hauptstadt Buenos Aires in Frage kommen. Grund für diesen Ortswechsel seien Differenzen mit der italienischen Regierung. Aber auch „England und die Achse“ seien dafür im Gespräch mit der Absicht, Verwundete und schwerkranke Kriegsgefangene zur Pflege in neutrale Länder bringen zu können. Quelle dieser mit dem Stempel „Geheim“ versehenen Meldung war das „ Seehaus“, während des Zweiten Weltkrieges die von der Öffentlichkeit streng abgeschirmte deutsche Abhörzentrale Am Großen Wannsee 28-30. Das Haus mit seinen verschiedenen Spezialantennen war als „Rundfunktechnische Versuchsanstalt“ getarnt.
Das Auswärtige Amt (AA), dem das Berliner„Seehaus“ zunächst allein und später in nicht konfliktfreier Kooperation mit dem Propagandaministerium unterstand, konnte die Sensationsmeldung ziemlich mühelos aufklären. Eine Rückfrage beim deutschen Vatikanbotschafter Diego von Bergen genügte, um im Führerhauptquartier und bei allen anderen Empfängern des „Seehaus“ - Informationsdienstes in Partei- und Regierungsstellen Entwarnung geben zu können. Die Mischung von Gerüchten, Indiskretionen, Spekulationen und gezielten Desinformationen spielte damals international eine erhebliche Rolle. Der Ätherkrieg war voll entbrannt. Mikrophone wurden hüben und drüben zu Wortschlachten missbraucht.
Im Sommer 1940 hatte das AA im „Schwedenpavillon“ das Hauptquartier des Monitor-Dienstes unter dem unverdächtigen Namen „Seehaus“ eingerichtet. Vor dem Krieg war das Gebäude ein nobles Hotel und Ausflugsrestaurant. Nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte es bis 1996 ein Heim des Arbei-ter-Samariter-Bundes für Chronisch Kranke. Heute steht dieser Komplex ungenutzt unter Denkmalschutz. Etwa 500 sprachkundige Mitarbeiter waren damals rund um die Uhr mit der Aufzeichnung und Auswertung ausländischer Sendungen in 36 Sprachen beschäftigt, soweit deren Wortprogramme für die politische-, militärische- und Propagandaführung von Bedeutung sein konnten.
Die gewonnenen Nachrichten wurden übersetzt, analysiert und in einem Funkspiegel zusammengefasst und einer begrenzten Auswahl von Dienststellen und Einzelpersonen zugänglich gemacht.
Verständlicherweise war das Reichskirchenministerium (RK) an den Auswertungen von Radio Vatikan besonders interessiert. Wie aus Akten des RK, die heute im Bundesarchiv Berlin liegen, hervorgeht, nahm man besonders an der„äußerst deutschfeindlichen Propaganda des Vatikansenders“ Anstoß, der „sich in der polnischen Frage ganz in den Dienst des Kardinal Hlond gestellt zu haben scheint“. Primas Hlond war nach Ausbruch des Krieges aus Polen über Rumänien nach Rom geflohen und hatte sich dort mehrere Monate aufgehalten und über die NS-Polenpolitik informiert. Schon vor Kriegsbeginn galt dieses Sprachrohr des Vatikans als eine „der aktivsten gegnerischen Rundfunkkräfte“ und „unangenehmer als etwa ein kommunistischer Sender“. Propagandaminister Goebbels ordnete daher im April 1941 die ständige Überwachung der täglich zweimal gesendeten Nachrichten von Radio Vatikan an. So stapelten sich auch im RK-Archiv die Abschriften aufgezeichneter Sendungen, darunter zahlreiche Kommentare.
Schon am 24. Februar 1940 hatte Nuntius Orsenigo Beschwerden der Reichsregierung über den Vatikansender nach Rom übermittelt. Pius XII. sah sich daher veranlasst, den Berliner Bischof Preysing am 22. April dieses Jahres in dieser Frage um Rat zu fragen. Die Berichte über die Lage der katholischen Kirche in Deutschland seien gegeben worden, so der Papst, „aus der Erwägung, dass ein vollständiges Schweigen des Heiligen Stuhles in der Öffentlichkeit geeignet gewesen wäre, die deutschen Katholiken zu entmutigen und außerhalb Deutschlands das Missverständnis zu fördern, als ob die kirchlichen Dinge in Deutschland eigentlich ziemlich normal stünden, jedenfalls sich gebessert hätten“. Da Repressalien wegen dieser Sendungen entstanden seien, habe er „jene Berichte vorerst einstellen lassen“, bis das Für und Wider sicher zu beurteilen sei.
Bischof Preysing beantwortete diese Anfrage am 1. Mai 1940 mit dem Hinweis, dass „Mitteilungen über kirchenfeindliche Maßnahmen, besonders wenn sie notorisch sind, Enteignungen, Aufhebung von Vereinen, Beschlagnahme der Gelder katholischer Institutionen nach dem Gesetz über kommunistische Umtriebe etc. können meiner Meinung nach unbedenklich besprochen werden“. Dagegen würde er abraten, „Dokumente des internen Verkehrs, Eingaben, Proteste als solche zu veröffentlichen“. Preysing hat also dazu beigetragen, dass der Sender des Papstes weiter über kirchliche Themen Deutschlands informierte.
Radio Vatikan, dessen Redaktion in den Händen des Jesuitenordens lag, konnte oft nur mit großen Störungen empfangen werden, weil er ausschließ-lich über Kurzwelle sendete. Trotzdem musste sich die Redaktion gegen Versuche zur Wehr setzen, dass eine andere Radiostation diese Welle zu kirchenkritischen Beiträgen benutzt. So stellte der „Seehaus“-Monitor-Dienst am 18. März 1942 fest, dass Radio Vatikan vor Sendungen warnte, die über seine Welle erfolgen und Gegenpropaganda enthalten.
Als 1941 der Klostersturm in „Großdeutschland“ mit aller Härte einsetzte, musste das AA den „Seehaus“-Berich-ten entnehmen, dass der Londoner Rundfunk detailliert über diese Maßnahmen des Kirchenkampfes berichtete. Ausdrücklich genannt wurden die Beschlagnahmungen der Benediktinerabteien Maria Laach, Schweiklberg, Weingarten und St. Ottilien, ebenso des Franziskanerklosters Frauenberg in Fulda und von zwei Jesuitenniederlassungen in Münster. Außerdem meldete der Londoner Rundfunk in französischsprachigen Sendungen detailliert über die Verfolgung der katholischen Kirche in Elsaß-Lothringen. Die um das deutsche Renommee im Ausland besorgten Beamten des AA wandten sich daraufhin hilfesuchend an das Kirchenministerium: „Da derartige Meldungen sich ständig wiederholen und derartigen Behauptungen nach Möglichkeit entgegengetreten werden soll, wird gebeten, die Behauptungen des Londoner Rundfunks nachzuprüfen und die Presseabteilung des AA von dem Ergebnis der Prüfung zu verständigen.“ Das RK gab dann am 27. November 1941 kleinlaut die Empfehlung, „von einer Polemik gegen diese Meldungen abzusehen und die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen“. Der Klostersturm musste intern bestätigt werden.
Dem Monitor-Dienst am Großen Wannsee ist in ausländischen Sendern auch die Berichterstattung über die Denkschrift der Fuldaer Bischofskonferenz an die Reichsregierung vom 18. Dezember 1942 nicht entgangen. Diese Demarche war die letzte und vielleicht wirkungsvollste Eingabe des Episkopats und zwar auf dem Höhepunkt der Stalingrad-Krise. Darin hieß es unter anderem : „Rings um Deutschland herum baut sich in allen besetzten Gebieten ein Wall von Erbitterung und Feindschaft auf, der zum guten Teil entstanden ist durch die rücksichtslosen Eingriffe der deutschen Partei- und Zivilverwaltungsbehörden in die Gewissensfreiheit und das Glaubensleben der Bevölkerung.“
Der Adventshirtenbrief 1942 von Bischof Preysing über das Recht, dessen mehrfache Wiedergabe in ausländischen Sendern im „Seehaus-Sonderdienst“ mit Zeit und Stunde genau festgestellt worden war, bereitete dem RK erhebliche Kopfschmerzen. Als undichte Stelle vermutete man Leute im Vatikan. Daher wandte sich das Kirchenministerium am 12. März 1943 an das AA, „wegen der Haltung des Vatikansenders und insbesondere wegen der nur durch Indiskretion möglichen Veröffentlichung von Hirtenbriefen katholischer Bischöfe in Großdeutschland bei der Kurie nochmals vorstellig zu werden“. Ob und mit welcher Reaktion eine Eingabe erfolgt ist, geht aus den Akten des Bundesarchivs Berlin nicht hervor.
In den Augen des Reichspropagandaministers Goebbels war der„Seehaus“ - Monitordienst in den Jahren deutscher Rückzüge und Niederlagen an allen Fronten mehr und mehr zu einer „Quelle des Defätismus“ geworden. Er ließ deshalb den Bezieherkreis streng limitieren. Dabei wusste er noch nicht einmal, dass es Männer gab, die „Seehaus“ - Abhörberichte der BBC, der „Stimme Amerikas“ und von „Radio Moskau“ an den Wachposten vorbeischmuggelten, um regimefeindliche Flugblätter wirkungsvoller gestalten zu können.
Goebbels und die Gestapo betrachteten die Abhörberichte, soweit sie den Kirchenkampf betrafen, zunächst nur als Merkposten über die Wortschlacht im Äther. Bischöfe wie Galen, Preysing, Faulhaber und Bertram, deren Antihaltung zum NS-Staat durch ausländische Rundfunksendungen bestätigt wurde, blieben deswegen bis Kriegsende persönlich unbehelligt. Die einzige, bisher bekannte Ausnahme war der Innsbrucker Provikar Dr. Lampert, dem man die Weitergabe von Informationen über den Kirchenkampf in Tirol für Radio Vatikan zur Last legte und deshalb zeitweise inhaftierte. Für alle anderen sollte die große Abrechnung nach dem Endsieg kommen. Aber der kam nicht. Die Geschichte schrieb dem NS-Staat und seinen Repräsentanten eine andere Rechnung. Dabei geriet - wie vieles andere - auch die Abhörzentrale am Großen Wannsee, die noch Mitte April 1945 beim „Endkampf“ um Berlin in Omnibussen nach Südwestdeutschland evakuiert worden war, in den Sog der Selbstauflösung.

Wolfgang Knauft
Nr. 11/00 vom 12. März 2000
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